Der Vegetarismus und der Veganismus und die Natürliche Wirklichkeit!
Alternative Lebens- und Ernährungsformen liegen im Trend. Darunter sind der Vegetarismus und der Veganismus inzwischen schon geradezu zu Massenphänomenen geworden.
Die Motivationen zur rein oder überwiegend pflanzlichen Ernährung werden häufig aus den als unwürdig empfundenen Haltungsformen landwirtschaftlicher Nutztiere gespeist. Dabei wird überwiegend die industriell betriebene landwirtschaftliche Massentierhaltung angeprangert.
Die neuzeitliche Massentierhaltung ist in der Tat in fast all ihren Spielarten eine gesellschaftlich tolerierte Barbarei – Vegetarismus und Veganismus demonstrieren u.a. auch gegen diese Praxis und sehen sich auch als gelebte Alternative zum „Unkultur-Phänomen-Massentierhaltung“.
Es gibt jedoch ein paar Gesichtspunkte, die bei Vegetariern und Veganern im mitteleuropäischen Kontext ihres Denkens und Handelns kaum Berücksichtigung finden.
Vegetarismus und Veganismus sind keine „Natur“
Kaum ein Naturvolk auf dieser Erde verzichtet auf die Einbindung tierischer Komponenten in ihre Ernährung und Lebensweise. Wenn wir auch jene Lebensweisen der Naturvölker als mehr oder minder vage Richtschnur für ein „Zurück zur Natur“ betrachten wollen – gehört zu einer natürlichen Lebensweise immer und überall die Einbindung des vorhandenen lokalen, regionalen tierischen Inventars in die Lebensgestaltung mit dazu.
Eine rein vegetarisch-vegane Lebensweise ist daher prinzipiell eher das künstliche (durchaus verständliche!) Produkt einer Antihaltung gegenüber der barbarisch verwerflichen Vernutzung unserer tierischen Mitwelt. Sie ist die ebenso krasse Über-Reaktion auf die krasse Aktion völlig unzivilisierter Tierhaltung. Eine rein vegetarisch-vegane Lebensweise lässt aber weitgehend außer Acht, dass sie mit „zurück zur Natur“, „naturgemäß“, oder „naturnah“ nur wenig zu tun hat.
Graslandökosysteme, Ackerbau und vegetarische Ernährung
Nur ein sehr geringer Teil der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche der Erde ist nachhaltig als Ackerland geeignet – nur dort können für die menschliche Ernährung direkt verwertbare Pflanzen angebaut werden.
Der größte Teil der „landwirtschaftlichen“ Fläche der Erde sind Graslandschafften in ihren verschiedensten Ausprägungen: Prärie, Savanne, Steppe, Tundra, Halbwüste usw.
Diese Graslandschaften taugen schlichtweg nicht für die Umwandlung in Ackerland. Eine Nutzung dieser Ökosysteme als Ackerland würde fast überall zu einer mehr oder minder raschen Degradierung dieser Flächen führen – auf absehbare Zeit würden vielerorts Wüsten entstehen!
Hirtenvölker, Vegetarismus, Imperialismus?
In diesen großen Graslandschaften ist eine menschliche Kultur nur über den Umweg der Landschaftsnutzung durch möglichst ökosystemangepasste Weidetiere möglich: die Samen und die Rentiere Skandinaviens, die Nenzen und die Caribous Sibiriens, die Steppenvölker Innerasiens, die Nomadenvölker Nordafrikas, die Hirtenvölker Zentral- und Südafrikas. In all diesen Graslandschaften können nachhaltig nur Menschen ökosystemangepasst wirtschaften, wenn sie jene Großtiere nutzen, die in der Lage sind in diesen Landschaften pfleglich und nachhaltig zu leben. Eine rein vegetarische und vegane Lebensweise in Form von Ackerbau wäre für die dortigen Landschaften und die dort lebenden Menschen nachhaltig gewiss nur eines: Tödlich!
Stellen wir jene tierische Nutzung über die Grasländereien grundsätzlich in Frage und postulierten wir auch für jene Regionen eine rein pflanzliche Nutzung dieser Landschaften würden wir nicht nur das Überleben dieser Ökosysteme in Frage stellen… – sondern auch das Daseinsrecht all jener Kulturen, die mit und von diesen Tieren und diesen Landschaften leben.
Mit einem konsequenten Vegetarismus und Veganismus, der seine Lebensform als „alleinseligmachend für die Weltenrettung“ preist verurteilen wir auch auf eine anmaßende Weise die nachhaltigen Lebensweisen zahlloser Grasland-Hirtenvölker – weltweit. Vegetarismus und Veganismus wären in diesem Kontext geradezu neokolonialistische Bevormundung.
Wege jenseits der Extreme
Beide Ernährungsformen propagieren daher eine Lebensweise, die weder der Natur des Menschen noch der nachhaltigen Nutzung vieler naturnaher Landschaften entspricht.
Nichtdestotrotz liefern beide gewiss wichtige und gute Impulse für einen neuen und differenzierteren Umgang mit unserer natürlichen Mitwelt – und jedem mag es selbstverständlich letztlich selbst überlassen bleiben wie er sich ernähren und wie er leben möchte.
Beide Lebensformen sind aber keine wirklichen Alternativen zu einer natürlichen Nutzung von Landschaft, Pflanze und Tier. Einer Nutzung die Ökosysteme in ihre Gesamtheit betrachtet und nach neuen, intelligenten Alternativen sucht – jenseits der tierischen Barbarei und jenseits von Vegetarismus und Veganismus.
Burkhard Stöcker