Giftpflanzen im Nahrungsspektrum des Wildes
Was für Menschen giftig ist, muss für heimische Wildtiere noch lange nicht ungenießbar sein. So gibt es zahlreiche Beispiele, in denen für uns hochgiftige Pflanzen zum täglichen Äsungsspektrum des Wildes zählen.
Vor mehr als vierhundert Jahren formulierte der große Arzt Parecelsus: „Solo dosis facit – die Menge macht das Gift“. Kurz und treffend erkannte er damals, was auf einen Großteil der heimischen Heil- und Giftpflanzen zutrifft: Was in geringen Mengen heilsam ist, kann, um nur weniges vermehrt, schädlich wirken. Im Grunde trifft dies jedoch auf sämtliche Nahrungsmittel zu – wer sich ausschließlich von Brot oder von Fleisch ernährt, wird sich innerhalb kurzer Zeit vergiften.
So unterschiedlich wie die Wirkungen einzelner Pflanzen auf den Körper sind, so verschieden reagieren auch die einzelnen Arten von Lebewesen auf bestimmte Inhaltsstoffe oder Pflanzen. Was für uns Menschen giftig ist, muss für heimische Wildtiere noch lange nicht ungenießbar sein. So gibt es zahlreiche Beispiele, in denen für uns hochgiftige Pflanzen zum täglichen Äsungsspektrum des Wildes zählen.
Eine der giftigsten heimischen Baumarten, die Eibe (Taxus baccata), erfreut sich beim heimischen Schalenwild, insbesondere bei den Rehen, einer ausgesprochenen Beliebtheit. Für uns gelten, außer der knackig roten Fruchthülle des Samens (dem Arillus), alle Teile der Eibe, einschließlich des im Arillus liegenden Samens, als hochgiftig. Ein Teeaufguß aus 50–100 Nadeln ist für den Menschen tödlich, und die Aufnahme von 100–200 Gramm führt auch bei Pferden sowie Schafen innerhalb von Minuten zum Lähmungstod. Neben dem Hauptgift Taxin, einem hochgiftigen Alkaloid, enthält die Eibe Melosin und Ephedrin. Schon in Caesars Gallischen Kriegen wird von einem König der Belgier berichtet, der es vorzog, sich mit Hilfe der Eibe das Leben zu nehmen, anstatt sich den Römern zu ergeben.
Offensichliche Eibenvergiftungen bei Wild sind relativ selten, jedoch nicht unbekannt: Im strengen Winter 41/42 fand man im sogenannten „Eibengarten“ bei Dermbach in der Rhön zahlreiches verendetes Muffelwild. Bei allen Tieren waren die Waidsäcke fast vollständig mit Eibennadeln gefüllt. Möglicherweise blieb dem Muffelwild in Ermangelung anderer Winternahrung keine Alternative und die hohe Konzentration wirkte tödlich – „Solo dosis facit – die Menge macht das Gift“. Auch im Harz gab es im gleichen Winter ähnliche Beobachtungen.
Früher fand man Eiben überall in der Nähe der Burgen und Schlösser, da sie ein begehrtes Bogenholz lieferten. Seit Erfindung des Schießpulvers und der Feuerwaffen hat man sie dann ihrer hochgiftigen Eigenschaften wegen aus der Umgebung des Menschen verdrängt.
Heut gilt sie als bedrohte Baumart, und auf den wenigen noch verbliebenen Standorten setzen ihr wahrscheinlich das Rehwild und konkurrenzstarke Baumarten, wie z. B. die Buche deutlich zu. Auch in Mecklenburg-Vorpommern finden sich noch kleine Vorkommen dieser Baumart, vor allem in Gärten und Parkanlagen.
Robinie und Pfaffenhütchen
Ein giftiger Einwanderer unter den Bäumen ist die Robinie (Robinia pseudoacacia), die ursprünglich aus dem Laubwaldgebiet des östlichen Nordamerika stammt. Sie enthält Lectin, ein auch in zahlreichen heimischen Schmetterlingsblütlern (die Robinie gehört ebenfalls zu dieser Pflanzengattung) vorkommendes Gift. Rinde, Blätter und Samen der Robinie enthalten die giftigen Eiweißstoffe Robin und Phasin. In Mitteleuropa gibt es bisher mehrere Vergiftungsfälle bei Kindern. Die wesentlichen Symptome sind Erbrechen, Krämpfe, Ohnmacht und Schläfrigkeit. Bei Rot- und Rehwild sind jedoch die zarten, grünen Blätter gleichermaßen beliebt. Die Robinie weiß sich jedoch durch eine ausgesprochen üppige Bedornung zu schützen und überlebt daher auch unter starkem Schalenwildeinfluß.
Auch einer unserer hübschesten heimischen Sträucher, das Pfaffenhütchen (Euonymus europaeus), enthält in seinen violett-orangen Früchten giftige Substanzen. Es sind hier überwiegend Glykoside, die zu Krämpfen, Kreislaufstörungen und Kollaps führen können. Rotwild verbeißt Pfaffenhütchen sehr intensiv, über die Aufnahme der Früchte durch Schalenwild ist jedoch bisher nichts bekannt. Fast alle restlichen heimischen Gehölze enthalten offenbar weder für den Menschen noch für die meisten Wildtiere Gifte jedweder Art und erfreuen sich ja auch beim Schalenwild des allseits bekannten und forstlich beargwöhnten Interesses.
Die zahlreichen krautigen Arten, die das Hauptäsungsspektrum des heimischen Schalenwildes darstellen, enthalten jedoch eine Vielzahl giftiger Substanzen – und der offenbar problemlose Umgang mit diesen Inhaltsstoffen ist häufig höchst erstaunlich.
Die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna) verführte mit ihren dunklen, kirschgroßen und ausgesprochen süß schmeckenden Früchten schon so manchen Waldläufer zu einem verhängnisvollen Verzehr.
Die Pflanze enthält die Alkaloide Atropin, Hysocyamin, Scopolamin, Apoatropin – eine Mixtur tödlicher Gifte. Schon drei bis fünf Beeren können bei Kindern, zehn bis zwanzig Beeren bei Erwachsenen zum Tod führen. Wenn auch nicht ausgesprochen bevorzugt, so wird die Tollkirsche von Rot‑, Muffel‑, sowie Rehwild doch zuweilen verbissen und auch die Aufnahme von Beeren ist belegt. In früheren Zeiten war die Tollkirsche ein beliebtes Rausch‑, Liebes- und Zaubermittel. Der Artname „belladonna“ stammt aus dem italienischen – dort träufelten sich angeblich Mädchen den Pflanzensaft in die Augen, um größere Pupillen zu bekommen. Ob unser Schalenwild ähnliche Gründe zum Verzehr bewegt, darf derzeit unbeantwortet bleiben.
Eine der giftigsten heimischen Wildpflanzen, der in mehreren Arten bei uns verbreitete Eisenhut, gehört ebenfalls gelegentlich zum Äsungsspektrum des Schalenwildes. Die Pflanzengattung Aconitum enthält das hochgiftige Aconitin, das schon in der minimalen Dosis von 1,5 bis fünf Milligramm für Erwachsene tödlich wirken kann. Selbst die unverletzte Haut nimmt schon Aconitin auf und es kann zu leichten Vergiftungserscheinungen führen.
Früher wurde es häufig als Pfeilgift eingesetzt, und eine Art, der Wolfseisenhut (Aconitum vulparia), diente – der Name deutet es an – als Giftköder für die eleganten Raubtiere. Wahrscheinlich sind damals Fleischköder in irgendeiner Form mit Eisenhut versetzt worden. Eine der giftigsten Pflanzen der Welt gehört zur Gattung Aconitus: Es ist die im Himalaya vorkommende Art Aconitum ferox.
Eine in Mitteleuropa ebenfalls in mehreren Arten verbreitete Gattung sind die Kreuzkräuter (Senecio spec.). Die in diesen Arten wirksamen Inhaltsstoffe sind die sogenannten Pyrrolizidin–Alkaloide. Kreuzkräuter werden im Allgemeinen von Nutzvieh gemieden, und auch ihre Verwendung als Arzneipflanze kann heute nicht mehr guten Gewissens empfohlen werden.
Zwei bei uns häufige Arten, das Fuchs Kreuzkraut (Senecio fuchsii) und das Jakobs-Kreuzkraut (Senecio jacobaea) wurden bspw. in der Nordeifel sehr gerne vom Rotwild angenommen.
Selbst bei sehr nahe verwandten Pflanzenarten kann jedoch die Attraktivität für Wildtiere sehr unterschiedlich sein. Von den heimischen Wolfsmilcharten (Euphorbia spec.) wird die Mandelblättrige Wolfsmilch (Euphorbia amygdaloides) von Rehwild gerne verbissen, die Zypressen-Wolfsmilch (Euphorbia cyparissias) jedoch vollständig gemieden.
Letztgenannte Art ist besonders auf sandigen nährstoffarmen Standorten nicht selten und insbesondere in guten Einstandsgebieten des Schalenwildes ist ihre unverbissene Präsenz augenfällig. Die Zypressen-Wolfsmilch gilt auch als klassisches Weideunkraut, das durch ihre Unbeliebtheit stark beweidete Regionen schnell dominieren kann. Beim Menschen führt insbesondere der namensgebende milchig weiße Pflanzensaft zu starken Reizungen der Schleimhäute und der Haut.
Interessant ist in Bezug auf die Wolfsmilch, dass mehrere Autoren deren Beäsung durch Muffelwild erwähnen. Schon FORGACH erwähnt in der zweiten Hälfte des 19 Jh. die sogar ausgeprägt starke Beäsung von Wolfsmilchgewächsen durch Mufflons. Er läßt jedoch leider offen, um welche Wolfsmilchspezies es sich dabei handelt. Auch der große Wildforscher BUBENIK erwähnt die Wolfsmilch als Bestandteil der Muffeläsung. Durch seine langjährigen intensiven Beobachtungen am Muffelwild konnte BRIEDERMAN an zwei Arten Verbiss feststellen, der Zypressen-Wolfsmilch (Euphorbia cyparissias) und der Eselswolfsmilch (Euphorbia esula). Schon junge Lämmer nahmen von beiden Arten jeweils die Triebspitzen auf.
Eine in vielen Waldregionen häufige Art ist der Rote Fingerhut (Digitalis purpurea). Die über siebzig bisher nachgewiesenen Glykoside machen den Fingerhut zur pharmazeutisch bedeutsamsten heimischen Wildpflanze. Alljährlich werden die Blätter in großen Mengen geerntet und zu Herzpräparaten weiterverarbeitet. Vielleicht hat auch beim Rotwild die geringe Dosierung mit Fingerhut eine herzstabilisierende Wirkung. Immerhin ist beim Rothirsch als ausdauerndem Lauf- und Fluchttier ein leistungsstarkes Herz von überragender Bedeutung.
Nur wenige, besonders auffällige Beispiele aus dem giftigen Äsungsspektrum der Wildtiere konnten hier genannt werden. Durch die feine Auswahl und Zusammenstellung aus der „Apotheke der Natur“ sind Überdosierungen und damit verbundene Vergiftungen offenbar selten.
Es scheint sogar möglicherweise ein gewisses natürliches Gefühl der Wildtiere für eine ausgewogene Aufnahme auch giftiger Pflanzen zu geben.
Hierzu gibt es eine interessante Studie von KURT: Er untersuchte die Nahrungswahl des Indischen Sambars, einer mit dem Rothirsch nahe verwandten Art. Der hohen Zahl von Giftpflanzen in seinem Äsungsraum (Regenwald) begegnet der Sambar mit einer spezifischen Anpassungsstrategie: Durch ein ausgeklügeltes Äsungsverhalten, nachdem der Hirsch möglichst kleine Mengen von möglichst vielen verschiedenen Pflanzenarten verzehrt, erreicht er, dass er stets nur eine verhältnismäßig geringe Menge einzelner Giftstoffe aufnimmt. Die in seinem Verdauungssystem lebenden hochspezialisierten, einzelligen Organismen sind zum Abbau dieser geringen Giftstoffmengen offenbar in der Lage.
Ähnliche Anpassungsstrategien sind auch für unsere heimischen Wiederkäuer denkbar. ZSCHETSCHKE glaubt beispielsweise, dass Rehe ständig auf der Suche nach wirksamen Kräutern sind, um Abwehrkräfte gegen ihre zahlreichen Parasiten aufzubauen. Es ist denkbar, daß auch anderes Schalenwild sich täglich seinen Bedarf an Heilkräutern im Rahmen einer vielfältigen, normalen Ernährung zusammenäst und sich so gegen die zahlreichen Krankheitserreger sowie Gefahren in freier Wildbahn rüstet.
Offenbar handeln Wildtiere unbewusst in weit höherem Maße als der naturentfremdete Mensch nach dem oben genanten Motto des Paracelsus: „Solo dosis facit – die Menge macht das Gift.“
Burkhard Stöcker