Vom Wert der Wildnis
Wir alle träumen gelegentlich von ihr und wünschen sie uns auch immer mal wieder herbei: im Fernsehen, im Urlaub, in der heimischen Landschaft (manche auch, aber viele ungern: Im Garten) – die Wildnis!
Sie gehört in der zivilisierten Welt ohne Zweifel zu den stark bedrohten Minderheiten und steht neben zahlreichen wildlebenden Pflanzen und Tierarten ganz oben auf der „Roten Liste der bedrohten Erscheinungen“!
Das von der Bundesregierung schon vor einiger Zeit ausgegebene Ziel von zwei Prozent zukünftiger Wildnis in unserem Lande nimmt sich rein rechnerisch eher bescheiden aus. Aber selbst diese zwei Prozent führen an allen Ecken und Enden zu einem wilden Tauziehen zwischen sämtlichen Beteiligten: Weil nun einmal schon nahezu jeder Quadratmeter einer klar definierten Nutzung unterliegt! Dem Naturschutz sind die zwei Prozent jedoch längst nicht genug – den Landnutzern hingegen schon viel zu viel.
Was ist Wildnis
„...ein durch Menschen nicht beeinflusster oder regulierter Zustand…“. Das können schon der Brennnesselhorst im Garten oder die unliebsamen Ameisen in der Küche sein. Zwei Wildniszustände, die den meisten Mitbürgern wohl eher unliebsam sind. Die „Fernab-und-Zeitweise-Wildnisse“ in TV und Urlaub werden jedoch gerne genommen, da sie in einer dosierten Form ja in der Regel immer mit den angenehmen Begleiterscheinungen der Zivilisation serviert werden. Hunger, Kälte, Raubtiere, Giftschlangen und Co. kommen darin stets maßvoll und auf Distanz vor.
Wirklich primäre Wildnis, also vom Menschen nie oder nicht beeinflusste Räume, haben wir in Mitteleuropa schon längst nicht mehr. Wenn wir einen sehr engen Maßstab anlegen (wie den globalen Schadstofftransport bspw. Mikroplastik) verfügen wir sogar weltweit nirgends mehr über Wildnis: Selbst im tiefsten Amazonien oder im entferntesten Eis der Antarktis finden wir leiseste Spuren unseres Wirkens.
Dies wird allseits als Verlust beklagt, denn Wildnis hat offenbar einen hohen Wert.
Welchen Wert hat Wildnis?
Wildnisse sind ohne Zweifel Horte der Artenvielfalt, Rückzugsgebiete für scheue und schöne Tiere, meist riesige CO² Senken und sie puffern die Gebärden der Zivilisation wie bspw. den Klimawandel.
Wildnis ist aber weitaus mehr.
Wildnisse sind Überraschungsräume
Dort wo wir als Menschen nicht eingreifen, nicht planen und nicht regulieren, wo wir uns also konsequent raushalten, passieren in der Natur immer wieder absolut überraschende Dinge.
Eines der schönsten Beispiele aus den letzten Jahren ist die Wildnisentwicklung im Nationalpark Bayerischer Wald. Unter den großflächig absterbenden, naturfernen Fichtenbeständen explodierte das neue Waldleben in Form von Rotbuchen, Bergahorn, Weißtanne, Vogelbeeren usw. Die Waldnatur zeigte uns wie man wirkliche Wälder baut – die Natur hatte den größeren forstlichen Sachverstand!
Wildnisse sind Denkräume
In der Wildnis, in der die geometrischen Formen unserer durchgeplanten Welt kaum mehr zum Ausdruck kommen, in der die Quaderformen der Häuser, die geraden Linien der Ackerfurchen oder die Geometrie unserer Plantagenwälder nicht mehr präsent sind – lassen die Gedanken anders wandern. Die für uns oft scheinbare Unordnung der Wildnis (die natürlich nur ihrer eigenen Ordnung folgt) führt auch uns in eine andere mentale und gedankliche Ordnung. Wildnis inspiriert.
Wildnisse sind Innere-Einkehr-Räume
Die Hände in den Schoß zu legen, nicht selbst Hand anzulegen, ist in einer Welt des Machens und Schaffens eine wahrlich ernsthafte Übung.
Und so wie für viele von uns das Nichtstun geübt und praktiziert werden muss, so darf auch die Gesellschaft lernen, dass es Räume geben muss, die nicht begutachtet, nicht beplant, nicht beherrscht werden müssen.
Einen nicht gestalteten Natur-Raum zu bewahren, ihn vor jedem zivilisatorischen Zugriff zu schützen setzt auch Bescheidenheit und Demut voraus. Eine Bescheidenheit und Demut, die angesichts aller technischen Allmachtsfantasien wohl auch in und mit der Wildnis geübt werden darf.
Wildnisse sind Ursprung aller Kultur
Wir müssen uns aber auch immer wieder darüber klar werden, dass alle Gebärden unserer Kultur – letztlich auch der Wildnis entstammen. Der amerikanische Wildbiologie und Umwelt-Ethiker Aldo Leopold sagte einst treffend: „Die Wildnis ist das Rohmaterial, aus dem der Mensch das Kunstprodukt gemeißelt hat, dass als Zivilisation bekannt ist“.
Und wenn wir uns dieses Ursprunges als „Urquell all unserer Kultur“ immer wieder bedienen wollen, als Inspiration für Musik, Malerei, Literatur, Wissenschaft, müssen wir Wildnis bewahren.
Und je unverfälschter wir dies tun, desto reicher wird auch letztlich die Kultur sein, die wir daraus ernten.
Burkhard Stöcker